Kommentar EWS-Präsident Dr. Ingo Friedrich, 11. März 2021

Von der heutigen Gesellschaft und auch von der Politik werden derzeit auf vielen Gebieten gigantische Lernprozesse erwartet, ja geradezu eingefordert. Während man bei einem Schulkind zurecht versucht, neue Lerninhalte in einem sinnvollen und verständlichen Nacheinander darzustellen, werden dem Zeitgenossen alle neuen Themen auf einmal und mit der geradezu radikalen Erwartung präsentiert, dass er sie bitte auch ad hoc verstehen, akzeptieren und anwenden möge. Bei einem großen Anteil der Bürger aber kommen diese Forderungen in Kombination mit anderen aktuellen und akuten Veränderungszwängen als eine Art Komplexitäts-Explosion an, der sich viele in dieser Form nicht mehr gewachsen fühlen. Einige Beispiele:

Kaum hat der Bürger gelernt, seinen nationalen Interessen auch die der europäischen Ebene hinzuzufügen, soll er schon die nächste Ebene, nämlich die globale, seinem Denken einverleiben (Stichwort: Gerechtigkeit für alle Länder).  Hat er gerade erst genderkonform die Sprech- und Schreibweise von Bürger*innen verinnerlicht, so soll er bitte unverzüglich und fehlerlos die Begriffe „nichtbinär“, „queer“ und „trans“ jonglieren als wäre es seine zweite Natur. Hat er gerade verstanden, dass die Begriffe „Mohrenkopf“, „Farbige“ und „Zigeunerschnitzel“ nicht länger akzeptabel sind, so muss er schon als nächstes lernen, dass eine Afrofrisur bei weißhäutigen Menschen wegen „kultureller Aneignung“ nicht länger akzeptiert werden kann, während er sich verwundert fragt, warum dann Menschen dunkler Hautfarbe ihre Haare blond färben dürfen, ohne dass es einen Aufschrei gibt.

In Folge des beeindruckenden Vortrags der amerikanischen Literatin Amanda Gorman bei der Vereidigung von Präsident Biden wurde die Frage diskutiert, ob weißhäutige Übersetzer überhaupt noch Literatur von dunkelhäutigen Autoren übersetzen dürfen. Deutsche Kinderbücher und Kinderlieder müssen umgeschrieben, Firmenlogos, Stadtwappen und Apothekennamen abgeändert werden.

All diese Themen sind sicherlich diskussionswürdig und haben ihre Berechtigung, nur darf dabei nicht vergessen werden, dass die Bürger - wie bei allen großen Veränderungen - verständnisvoll, mit guten Begründungen und Erklärungen und dem Einräumen gewisser Lernzeiten „mitgenommen“ werden müssen. Unnötige Übertreibungen und moralisierendes Abstrafen eines jeden „Fehltritts“ führt hierbei nicht zu mehr Akzeptanz, sondern nur zu verschrecktem Rückzug in vermeintlich „vertraute“ Welten.  

ur wenn man alle Mitglieder einer Gesellschaft in neue Diskurse einbezieht und ihnen wohlwollend den Raum zum Lernen gibt, statt sie atemlos mit immer neuen Begriffen und Bildern vor sich herzutreiben, kann verhindert werden, dass sich (gerade im Internet) ganze Bevölkerungsgruppen „ausklinken“ und nicht mehr „mitspielen“. Dies ist besonders wichtig, zumal den Bürgern auch auf vielen anderen Gebieten (Pandemie, Klima, Globalisierung, Landwirtschaft) eine immense Veränderungs- und Lernbereitschaft abverlangt wird. Lernen ist immer ein Prozess, nichts passiert einfach auf Knopfdruck. Auf jeden Fall muss verhindert werden, dass bei uns in Deutschland und Europa auf Grund mangelnder Erklärung und rigoroser Umsetzung „amerikanische“ Verhältnisse a la Trump entstehen. Gewissenlose Agitatoren, die all die Neuerungen in Gänze ablehnen und auf das „Altbewährte“ setzen und obendrein noch raffiniert Verlustängste schüren, sind leider schnell gefunden und bieten sich überall an. „Eile mit Weile“ ist ein alter und bewährter deutscher Grundsatz, der auch auf diesen sensiblen Gebieten Anwendung finden sollte.