EWS Wirtschaftsgespräche in München (D), 2. Juli 2008

EWS Wirtschaftsgespräche:

 

„Bürokratieabbau in Europa aus der Sicht der EU
mit
Dr. Edmund Stoiber,
Leiter „high level group zum Bürokratieabbau in Europa“

Bereits heute gehen rund 80 % aller Gesetze und Verordnungen mit wirtschaftlichem, aber auch gesellschaftlichem Bezug direkt oder indirekt auf „Brüssel“ zurück. Diese und viele andere „EU-Besonderheiten“ mit einer überbordenden Bürokratie machen es dringend erforderlich, dass Unternehmer verstärkt ihren Rat auf nationaler und europäischer Ebene einbringen.

 

Wir möchten diesen Dialog nutzen, die erforderlichen Veränderungen mit zu gestalten.

 

Termin: Mittwoch, den 02. Juli 2008

Ort: Hotel Bayerischer Hof, Promenadenplatz 2-6, 80333 München

Leitung und Moderation: Prof. Dr. Bernhard Friedmann

Programm:

17.00 Uhr Empfang, Registrierung Teilnehmer

Begrüßung der Teilnehmer Prof. Dr. Bernhard Friedmann

Impulsreferat Dr. Edmund Stoiber

Podiumsdiskussion und Dialog mit Teilnehmern

Senatsdinner für alle Teilnehmer

 

Im Anschluss an Impulsreferat und Podiumsdiskussion wurde eine enge und vertrauliche Zusammenarbeit zwischen der "high level group zum Bürokratieabbau in Europa" und dem EWS vereinbart.

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Rede von Herrn Ministerpräsidenten a. D.

Dr. Edmund Stoiber beim Europäischen Wirtschaftssenat am 2. Juli 2008 in München zum Thema:

„Bürokratieabbau in Europa aus Sicht der EU“ (Es gilt das gesprochene Wort)

 

Sehr geehrter Herr Präsident Prof. Dr. Friedmann,

sehr geehrte Damen und Herren,

gerne bin ich Ihrer Einladung gefolgt, dem Europäischen Wirtschaftssenat (EWS) über den Bürokratieabbau in Europa zu berichten. Der EWS, dem besonders erfolgreiche Unternehmer und Persönlichkeiten der europäischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik angehören, engagiert sich für Staat und Gesellschaft und steht als kompetenter Gesprächspartner mit Anregungen und Lösungsvorschlägen aus der Praxis zur Verfügung.

 

Dies ist gerade heute, wo Wirtschaft und Gesellschaft vor großen Herausforderungen stehen, von besonderer Bedeutung. Und ich bin mir sicher, dass der Europäische Wirtschaftssenat auch ein starker Verbündeter beim Kampf gegen die EUBürokratie ist.

Sie kennen mich ja seit vielen Jahren und Sie wissen, wenn ich etwas anpacke, dann möchte ich eine Sache auch inhaltlich durchdringen und dann arbeite ich mich voll in die Sache ein. Auch wenn es „nur“ ein Ehrenamt ist. Das habe ich in den letzten Monaten in der Aufgabe des Bürokratieabbaus gemacht. In der Zwischenzeit, das hätte ich offen gesagt in dieser Form gar nicht erwartet, ist die High Level Group zu einer Art Anlaufstelle oder auch Ombudstelle für Hoffnungen auf Bürokratieabbau überall in Europa geworden. Offenbar haben wir hier wirklich einen Nerv getroffen, weil das Problem der Bürokratie unter den Nägeln brennt.

 

  1. Rahmenbedingungen für den Bürokratieabbau und Ziele der HLG

Fragt man heute den Mann auf der Straße – sei es in Rom, London, Paris oder in München, am Marienplatz, was er in erster Linie mit der EU verbindet, so sind dies nicht die unbestreitbaren Erfolge wie Frieden, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit, sondern Fehlentwicklungen wie mangelnde Transparenz und übermäßige Bürokratie.

Ich kann das nicht nur aus meiner langjährigen Regierungszeit bestätigen. Seit ich meine Aufgabe als Vorsitzender der Hochrangigen Gruppe zum EU-Bürokratieabbau übernommen habe, erhalte ich zahlreiche Zuschriften von Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürgern, in denen über die Regelungswut der Bürokraten geklagt wird und dies anhand konkreter Beispiele belegt wird. Die EU wird als bürokratisches Monster, als Moloch angesehen, mit undurchschaubaren Strukturen und Verfahren. Diese Wahrnehmung prägt nun für viele Menschen das Bild der EU insgesamt.

Dass dies keine Übertreibungen sind, zeigt eine aktuelle Umfrage in Deutschland. Auf die Frage „Wenn Sie morgen in der Zeitung lesen würden, die Europäische Kommission wird abgeschafft: würden Sie das begrüßen, bedauern, oder wäre Ihnen das egal?“ antworten im Mai 2008 12 Prozent, sie würden die Nachricht begrüßen, 43 Prozenten meinten, sie würden sie bedauern. 45 Prozent sagten, das wäre ihnen egal, oder äußerten sich unentschieden“. Das ist doch erschreckend!

Hinzu kommt: Nicht die ältere Generation zeigt sich gegenüber der europäischen Einigung besonders gleichgültig, sondern die Menschen unter 30 Jahren. Dies bedeutet, das Europa nicht mehr in der Lage ist, die Herzen der Menschen zu erreichen und die europäische Einigung für die Menschen nicht mehr wie früher eine Herzensangelegenheit ist, sondern allenfalls eine Sache der Zweckmäßigkeit. Auch wenn große Mehrheiten trotz dieser Einstellung bei Umfragen einheitliche europäische Regelungen fordern, entkräftet dies den erschreckenden Befund nicht. Denn: Die Abwendung von Europa und der Umschlag in Gleichgültigkeit geschehen schleichend. Die Klage über die überbordende Bürokratie Europas ist dabei zum festen Bestandteil des Meinungsbildes geworden.

Diese Entwicklung dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Diese Einstellung untergräbt auf Dauer das Fundament der europäischen Einigung. Wenn dieser Akzeptanzverlust von den politischen Entscheidungsträgern nicht ernst genommen wird, wird die Beteiligung an den Europawahlen 2009 noch weiter „in den Keller gehen“.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bürokratieabbau dazu beitragen kann, die notwendige

Akzeptanz der EU in der Bevölkerung wieder zu verbessern.

Das irische Nein zum Reformvertrag geht sicher auch auf diese Haltung zurück. Das ist umso bedauerlicher, als gerade der neue Vertrag die Institutionen und Entscheidungsprozesse transparenter machen und die nationalen Parlamente stärken würde.

Allerdings ist das Verhalten der Bürgerinnen undBürger und der Unternehmen widersprüchlich: Sie fordern vielfach neue Regelungen, insbesondere nach Katastrophen oder Krisen. Tausende von Abgeordneten auf allen Ebenen und tausende von Beamten in der EU und in den Mitgliedstaaten sind deshalb jeden Tag darum bemüht, durch neue Regelungen zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen beizutragen, um mehr Sicherheit zu schaffen, auch wenn dies die Freiräume des Einzelnen zunehmend einschränkt.

Der Wunsch nach weniger Regelungen ist zwar grundsätzlich auch vorhanden, tritt aber in konkreten Einzelfällen meistens hinter Sicherheits-, Gesundheits- oder Verbraucherschutzinteressen zurück. Dann habe ich oft den Eindruck, dass nicht Gürtel oder Hosenträger ausreichen, sondern beides gefordert wird und darüber hinaus Hemd und Hose noch mit „Reißzwecken“ verbunden werden sollen.

Wir brauchen hier wirklich eine gesellschaftspolitische Grundsatzdiskussion und einen Meinungswandel in der Bevölkerung hin zu „mehr Mut zur Lücke“. Denn die öffentliche Meinung ist der wichtigste Verbündete in Sachen Bürokratieabbau.

Und nur der Druck der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen kann zu einem Umdenken der politisch Verantwortlichen führen. Für diese Ambivalenz beim Bürokratieabbau zwei aktuelle Beispiele: Die EU will immer mehr Lebensbereiche regeln, weil sie darin die Chance sieht, europäische Standards gegenüber anderen Wirtschaftsmächten wie die USA oder China durchzusetzen. Gleiche Rahmenbedingungen auf der Grundlage europäischer Regelungen kommen vor allem europäischen Unternehmen zugute.

Dies zeigt sich beispielsweise bei der Kontrolle von chemischen Stoffen im Rahmen der sogenannten REACH-Verordnung. Durch REACH wurde die Europäische Union zum Vorreiter in diesem Bereich. Staaten wie China übernehmen nun europäisches Recht, statt sich auf die in ihren Augen veralteten amerikanischen Vorschriften zu verlassen. China hat in Helsinki sogar eine Repräsentanz eingerichtet, um dort die Arbeit der neu gegründeten Europäischen Agentur für chemische Stoffe zu beobachten.

Die Kehrseite der Medaille ist aber zunehmende Bürokratie, insbesondere für kleine Betriebe. So hat mir eine kleine bayerische Papierfabrik am Tegernsee geschrieben, dass sie nun laufend Fragebögen von ihren Kunden erhält, die wissen wollen, ob die bei der Papierherstellung verwendeten Stoffe gemäß der REACH-Verordnung registriert werden, um die Bestätigung zu haben, dass diese auch künftig verfügbar sind. Für einen kleinen Betrieb mit 9.000 Kunden bedeutet dies einen erheblichen Mehraufwand, der ihm weder Umsatz- noch Produktivitätssteigerungen bringt, sondern in hohem Maße unwirtschaftlich ist und Arbeitszeit kostet, die weitaus sinnvoller genutzt werden könnte. Gleichwohl haben die politischen Verantwortlichen aus Gründen des Umweltund Verbraucherschutzes diesen Mehraufwand bewusst in Kauf genommen.

Ein weiteres aktuelles Beispiel ist die Forderung nach Schaffung einer europäischen Rating- Agentur. Damit soll auf die Kritik an den angloamerikanischen Rating-Agentuen reagiert werden.

Ihnen wird eine Mitschuld an der internationalen Finanzkrise gegeben, da sie Anleger zu spät vor den großen Kreditrisiken amerikanischer „Ramsch-Hypotheken“ gewarnt haben. Binnenmarkt Kommissar McCreevy fordert zwar noch keine neue Verwaltung, aber neue Aufsichtsregeln für Rating-Agenturen, die Meldepflichten, Regeln für die Finanzaufsicht und Vorgaben zu einem effizienten Management umfassen sollen. Den bisher bestehenden freiwilligen Verhaltenskodex hält McCreevy für „zahnlos“. Ob eine Regulierung mit neuen administrativen Strukturen oder neue Aufsichtsregeln für die Anleger wirklich Vorteile gegenüber einer verbesserten Selbstverpflichtung bringen würde, ist offen.

Wir müssen darüber hinaus auch die nationalen Regierungen beim EU-Bürokratieabbau einbeziehen. Denn oft sind es die Mitgliedstaaten, die den Umweg über Brüssel nehmen, um Regelungen, die sie innenpolitisch nicht durchsetzen können, doch noch einzuführen.

Oder die Mitgliedstaaten setzen zur Vereinheitlichung von Qualitätsstandards europäische Vorgaben durch. Ein klassisches Beispiel ist die Festlegung des Krümmungsgrades von Gurken.

In den Marktordnungen für Gemüse und Obst sind Mindestgewicht und Mindestgröße, und im Fall der Gurke auch die maximale Krümmung, festgelegt. Dies wurde schon von Franz Josef Strauß als Beispiel für zügellose europäische Bürokratie angeführt. Nun schlägt EU-Agrarkommissarin Fischer-Boel im Zuge von Vereinfachungsbemühungen die Abschaffung dieser Vorschriften vor. Und siehe da, zahlreiche Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, fordern nun im Namen des Verbraucherschutzes und einheitlicher Standards für die Händler die Beibehaltung dieser Norm.

Die Beispiele machen deutlich, wie schwer die Forderung nach „mehr Mut zur Lücke“ in der Praxis umzusetzen ist. Ich stelle es doch immer wieder fest: Jeder ist für das hehre Ziel: Weniger Bürokratie.

Aber wenn es dann konkret wird mit dem Abbau einer Reglementierung, dann wird es oft schwierig. Das ist dann genau wieder die Abwägung: Freiheit oder Sicherheit? Das ist der Kern.

Diese in sich widersprüchliche Haltung müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern deutlich vor Augen führen, um einen Bewusstseinswandel anzustoßen.

Das ist wahrlich eine enorme Herausforderung und „das Bohren dicker Bretter“.

Neben der politischen Dimension hat der Bürokratieabbau auch gewichtige wirtschaftliche Motive: Im Jahr 2000 hat sich die EU in Lissabon das ehrgeizige Ziel gesteckt, bis 2010 zum weltweit wettbewerbfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum zu werden. Diesem Ziel sind wir bis heute kaum näher gekommen. Der Abstand zu den Vereinigten Staaten ist nach wie vor groß. Hier muss sich Europa noch mehr anstrengen. Das Ziel muss sein, Bürokratielasten für Wirtschaft und Unternehmen in Europa deutlich zu senken. Wenn wir hier vorankommen, dann wird das die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft verbessern und ihr einen kräftigen Wachstumsschub von 1,5 % des BIP geben. Nur so kann Europa im globalen Wettbewerb auf Dauer bestehen. Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Europas Anteil am Welt-Sozialprodukt mehr als 30 Prozent beträgt. Oder dass 50 Prozent der amerikanischen Direktinvestitionen in Europa landen und nur 1,5 Prozent in China. Oder dass das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr in Europa 25.000 Euro beträgt und in China nur 1.500 Euro.

Die EU-Kommission strebt bis 2012 eine Verringerung der Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 25 Prozent an. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel. Ich habe mir deshalb vorgenommen, dass die Hochrangige Gruppe durchaus mutige Vorschläge machen soll, die über das hinausgehen, was die Kommission bisher vorgeschlagen hat. Die Kommission ist dann natürlich frei in ihrer Entscheidung, ob sie diese aufgreift oder nicht. Sie wäre aber gut beraten, die von mir bereits dargelegte eminent politische Dimension des EU Bürokratieabbaus zu beachten. Erfolge beim Bürokratieabbau würden die Akzeptanz der EU verbessern.

Optimistisch für ein neues Denken in Europa beim Bürokratieabbau stimmt mich mein Treffen mit den Vertretern aller 27 EU-Mitgliedstaaten im Wettbewerbsfähigkeitsrat am 29. Mai 2008, denen ich über die bisherige Arbeit der Hochrangigen Gruppe berichtet habe. Immer mehr Mitgliedstaaten wollen beim Bürokratieabbau in der Spitzengruppe sein. Die Idee des Bürokratieabbaus gewinnt in ganz Europa an Fahrt. Es ist ermutigend, dass die Zahl der Länder ständig größer wird, die die bürokratische Belastung auf den Prüfstand stellen und mit nationalen Expertengruppen der selbst gemachten Bürokratie zu Leibe rücken wollen.

Sicherlich kann die Kommission den Bürokratieabbau in vielen Fällen nicht allein umsetzen. Auch

das Europäische Parlament und der Ministerrat sind hier in der gemeinsamen Verantwortung, Rechtsetzungsvorschläge der Kommission zügig zu behandeln und zu verabschieden. Ich halte eine frühzeitige Verzahnung der Arbeit der Hochrangigen Gruppe mit der des Parlaments für einen Erfolg in der Sache für unentbehrlich. Nach der Sommerpause werde ich im Rechtsausschuss und im Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments über die Arbeit der Gruppe berichten.

 

  1. Ansätze der HLG

Das Mandat der Gruppe umfasst die Überprüfung von Informationsverpflichtungen für Unternehmen im bestehenden EU-Recht und den nationalen Umsetzungsakten. Die Überprüfung kann zum Ergebnis führen, dass die Regelung ganz entfällt oder effizienter gestaltet wird (höhere Schwellenwerte, eGovernment-Lösungen, längere Berichtszeiträume etc.). Das wirtschaftliche Potenzial des Bürokratieabbaus liegt bei 150 Mrd. Euro.

Es ist ein positives Signal für unsere gemeinsame Aufgabe, dass sich eine ganze Reihe von

herausragenden Persönlichkeiten aus zahlreichen Mitgliedstaaten und Institutionen in unserer High Level Group engagiert, um Vorschläge für einen effektiven Bürokratieabbau zu machen. Persönlichkeiten wie die Vorsitzenden der nationalen Normenkontrollräte aus Deutschland, Herr Dr. Ludewig, und Herr Linschoten aus den Niederlanden. Oder der frühere EU-Kommissar Pavel Telicka. Oder Ricardo Illy, der langjährige ehemalige Präsident der Region Friaul-Julisch Venetien.

Auch Vertreter der Umweltschutz-, Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerinteressen wirken in diesem Gremium mit. Die Mitglieder sollen mit ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen den Bürokratieabbau in Europa voranbringen.

Ein besonderes Anliegen war mir auch, dass sich an meiner Seite ein absoluter Top-Mann aus dem Bereich Unternehmensberatung, und mit europäischer Ausstrahlung, ehrenamtlich für dieses Ziel engagiert. Ich persönlich bringe zwar politische Erfahrung mit ein, aber den Praxisbezug zur Wirtschaft bringt für unsere gemeinsame Aufgabe in ganz besonderer Weise Roland Berger mit ein. Er hat unzählige bedeutende Wirtschaftsunternehmen in Europa beraten und weiß aus jahrelanger Erfahrung ganz genau, wo der bürokratische Schuh die Wirtschaftsunternehmen drückt. Außerdem hat er viele Regierungen in Europa beraten und geholfen, wichtige Reformprojekte auf den Weg zu bringen, wie z. B. in Deutschland die Agenda 2010 unter Bundeskanzler Schröder.

Die Erwartungen an die Gruppe sind hoch. Dies zeigt das Medieninteresse und die Zahl der Vereinfachungsvorschläge, die ich als Vorsitzender der Gruppe und die die Mitglieder erhalten.

Ich nenne hier als Beispiel ein Unternehmen, das die Inhaltsstoffe seiner Produkte (Schnupftabak) an die Europäische Gesundheitsbehörde und an die Gesundheitsbehörden in den Mitgliedstaaten melden muss, also insgesamt 27 Meldungen abgeben muss.

Oder die Langzeitlieferantenerklärung, bei dem ein Unternehmen vorab erklären muss, welche Produkte es im kommenden Jahr an seine Kunden liefern wird und aus welchem Ursprungsland diese Produkte stammen. Ob diese Vorgaben wirklich unentbehrlich sind oder ob hier nicht doch Vereinfachungen möglich sind, muss näher geprüft werden. Das Potenzial an Abbaumöglichkeiten bei europäischen Regelungen, die den Unternehmen Informationspflichten auferlegen, scheint mir aber sehr beträchtlich zu sein.

Ich werde mir gemeinsam mit den Mitgliedern der High-Level-Group bei ausgewählten Unternehmen und Unternehmerverbänden in Europa vor Ort genau anhören, wo die größten bürokratischen Probleme sind. Denn ich bin davon überzeugt, dass die Erfahrung der Praxis durch nichts zu ersetzen ist. Auf dieser Grundlage und mit der Erfahrung der Mitglieder der High-Level-Group werden wir dann Handlungsvorschläge gegenüber der Kommission unterbreiten.

Eine Auftaktveranstaltung mit dem BDI ist für Ende Juli 2008 geplant. Gemeinsam mit Roland Berger will ich in Berlin mehrere Betriebe besuchen und mit den Betroffenen vor Ort sprechen, um zu sehen, wie wir der Bürokratie am Besten zu Leibe rücken können.

Ein wichtiges Anliegen ist mir, dass die Ergebnisse der High-Level-Group im laufenden Rechtsetzungsprozess („ex-ante“) berücksichtigt werden. Denn die Bürger hätten kein Verständnis, wenn an der einen Stelle Bürokratie abgebaut würde und an einer anderen neue entstehen würde.

Hier findet auf meine Initiative bereits ein regelmäßiger Austausch mit dem Gesetzesfolgenaus-schuss der EU-Kommission statt, der überprüft, ob bei neuen Regelungen eine ausreichende Folgenabschätzung stattgefunden hat. Der Ausschuss,der aus fünf hohen EU-Beamten besteht,

ist sehr bemüht. Letztlich fehlt ihm aber die nötige Unabhängigkeit gegenüber dem Apparat in Brüssel. Wie diese Aufgabe in Zukunft optimal ausgestaltet wird, sollte bis zum nächsten Frühjahrsgipfel geklärt werden.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es neben des fachlichen Beitrags die wesentliche Aufgabe dieser Gruppe sein wird, dem Bürokratieabbau innerhalb der Gemeinschaft zu größerer Sichtbarkeit in der europäischen Öffentlichkeit zu verhelfen und ihm dadurch größere Dynamik und Effizienz zu verleihen. So erhält dieses Thema die erforderliche politische Unterstützung in der EU und den Mitgliedstaaten.

 

  1. Arbeitsweise der HLG und erste Erfolge

Zur Umsetzung ihrer ehrgeizigen Ziele hat die EUKommission Anfang 2007 ein Aktionsprogramm beschlossen. Seit letztem Jahr werden durch ein externes Beraterkonsortium (Deloitte, Capgemini, Ramboll) die durch Informationspflichten verursachten Bürokratiekosten in 13 vorrangigen Gebieten (u. a. Landwirtschaft, Bilanzwesen und Unternehmensrecht, Regionalpolitik, Umwelt, Finanzdienstleistungen, Öffentliches Auftragswesen, Statistik, Umsatzsteuerrecht und Verkehr) gemessen und Vereinfachungs-vorschläge erarbeitet.

Das ist eine gewaltige Aufgabe. Dabei soll nicht das Ziel der Regelung in Frage gestellt werden, sondern unnötiger Verwaltungsaufwand für Unternehmen abgebaut werden.

Es werden 42 Rechtsakte der EU untersucht, die insgesamt 344 europäische Informationspflichten enthalten, und die nationalen Umsetzungsregeln.

Bisher wurden rund 6.000 nationale Informationspflichten in den 27 Mitgliedstaaten ermittelt, die Zahl kann aber noch deutlich höher liegen. In der ganzen Europäischen Union wurden Unternehmen befragt, um den zeitlichen und finanziellen Aufwand zu beurteilen, der bei der rechtlich verpflichtenden Erfüllung von Informationspflichten an öffentliche Behörden oder private Stellen entsteht:

  • Die Unternehmen geben etwa an, dass sie mehr als fünf Stunden bei jeder Ausschreibung mit der Sammlung und Übermittlung vonganz einfachen Daten verbringen müssen, sogar wenn die Ausschreibung von derselben Stelle durchgeführt wird.
  • Lebensversicherungsunternehmen klagen, dass sie bis zu 150.000 Euro pro Jahr und Mitgliedstaat ausgeben, da Änderungen in den Policen den Versicherungsnehmern auf eine ganz bestimmte Art und Weise mitgeteilt werden müssen.
  • Es wurde auch herausgefunden, dass LKW-Fahrer ihre Fahrzeiten in manchen Mitgliedstaaten zweimal und auf verschiedene Art und Weise aufzeichnen müssen, je nachdem ob es sich um die nationale oder die EU-Vorschrift handelt.
  • Oder dass in einem Mitgliedstaat Unternehmen die Benützung gefährlicher Substanzen bei sage und schreibe 6 verschiedenen Behörden anzeigen müssen. Um schon erste Vereinfachungen auf den Weg zu bringen, hat die Kommission 2007 und 2008 sogenannte Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, die möglichst rasch umgesetzt werden können. Das Paket 2007 hat die Unternehmen bereits um 500 Mio. Euro entlastet. Bei den Sofortmaßnahmen 2008, die die Unternehmen um mehr als eine Mrd. Euro entlasten, wurde die Gruppe das erste Mal konsultiert. Die Gruppe hat diese Maßnahmen überprüft und als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßt.

Dazu zählen u. a. unnötige EU-Vorgaben im europäischen Unternehmensrecht, die allein die Unternehmen um 600 Mio. Euro entlasten sollen. Diese Maßnahmen betreffen folgende Bereiche:

  • Die Verpflichtung, Geschäftsdaten in den nationalen Amtsblättern zu veröffentlichen, wird gestrichen, da diese Informationen bereits im Internet zugänglich gemacht werden müssen. Dies ermöglicht einen einfachen Zugang und verursacht keine zusätzlichen Kosten.
  • Kostenintensive Übersetzungspflichten bei der Eröffnung von Zweigstellen in anderen

Mitgliedstaaten werden reduziert. Künftig soll es möglich sein, Übersetzungen wiederzuverwenden, die zuvor in einem der Mitgliedstaaten beglaubigt wurden, wenn ein Unternehmen bereits eine Zweigstelle im Ausland eröffnet hat. Dieser Vorschlag würde dazu beitragen, die Kosten bei der Eröffnung neuer Zweigstellen zu senken.

  • Offenlegungspflichten bei der Buchführung mittlerer Unternehmen sollen eingeschränkt werden.
  • Muttergesellschaften, die Tochterunternehmen von untergeordneter Bedeutung unterhalten, sind nicht mehr verpflichtet, einen konsolidierten Abschluss aufzustellen Indem diese Auflagen entfallen, müssen die Unternehmen nicht mehr zwei Mal praktisch den gleichen Jahresabschluss erstellen. Darüber hinaus sind als Sofortmaßnahmen u. a. vorgesehen:
  • Kleine Unternehmen sollen von der Pflicht zur Meldung von statistischen Daten über den

innergemeinschaftlichen Handel befreit werden.

  • Klarstellung, dass vor dem 26.09.2008 ordnungsgemäß in den Verkehr gebrachte Batterien nicht vom Markt genommen werden müssen.
  • Weniger Verwaltungsaufwand für Unternehmen, die Arzneimittel in der EU auf den Markt bringen. Dadurch wird es einfacher, Bestimmungen für die Verpackung oder die Herstellung zu ändern, ohne dass es dadurch zu einer Gefährdung der Patienten kommt.

Derzeit wird das EU-Unternehmensrecht durchforstet. Dieser Bereich umfasst allein rd. 20 Prozent der Informationspflichten und hat ein beträchtliches Entlastungspotenzial in Milliardenhöhe.

Das Konsortium, das die Bürokratiekosten europaweit gemessen hat, kommt in seinem vorläufigen Abschlussbericht auf Bürokratiekosten von rd. 20 Mrd. Euro und hat Vorschläge mit einem Entlastungsvolumen von 7,4 Mrd. Euro vorgelegt.

Am 29. Mai 2008 hat sich die Gruppe mit dem EUUnternehmensrecht befasst und in Anwesenheit von Kommissionspräsident Barroso und Vizepräsident Verheugen eine erste Leitentscheidung getroffen. Die Gruppe hat beschlossen, dass sogenannte Kleinstbetriebe künftig von den EURegeln zum Jahresabschluss und zur Rechnungsprüfung vollständig befreit werden sollen. Dabei handelt es sich um Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten, einer Bilanzsumme unter 500.000 Euro und einem Umsatz unter einer Million Euro. Über 90 Prozent dieser Betriebe in Europa betätigen sich ausschließlich in ihrem Heimatland. Es ist nicht notwendig und auch nicht vermittelbar, dass Europa von diesen Betrieben Jahresbilanz, Geschäftsbericht und Rechnungsprüfung verlangt. Unternehmer und Mitarbeiter sollen sich auf ihre Produkte konzentrieren und nicht überflüssige Arbeit für Europa machen.

Für 86 Prozent aller Betriebe in der Europäischen Union soll auf diese Weise die bürokratische Belastung drastisch reduziert werden. Das Potenzial der Entlastung liegt europaweit bei 5,7 Milliarden Euro. Zur Umsetzung dieser weitreichenden Maßnahme empfiehlt die HLG der EU Kommission, die bisher zwingende Anwendung der verten Richtlinie auf Kleinstbetriebe aufzuheben.

Die Mitgliedstaaten können dann die Betriebe von der EU-rechtlichen Pflicht zur Rechnungsund Wirtschaftsprüfung befreien.

Darüber hinaus hat die Gruppe vorgeschlagen, noch höhere Schwellenwerte für Mitarbeiterzahl, Bilanzsumme und Umsatz zu prüfen. Höhere Schwellenwerte würden die Zahl der begünstigten Betriebe weiter erhöhen. Natürlich werden die einzelnen Vorschläge des externen Beraterkonsortiums und der EUKommission von der HLG gründlich geprüft. Für mich ist aber klar, dass die Gruppe über diese Vorschläge noch deutlich hinausgehen muss, damit wir die angestrebten Entlastungen und Vorteile der Vereinfachungen in Höhe von 150 Mrd. Euro erreichen können. Hier sind das ganze Fachwissen und die Erfahrungen der Mitglieder der HLG gefordert, aber auch die grundsätzliche Haltung, dem Bürokratieabbau auch einmal Vorrang vor Einzel- und Fachinteressen einzuräumen.

Denn nur so können wir beim Bürokratie-Abbau wirklich vorankommen.

Bei der nächsten Sitzung am 10.07.2008 will die Gruppe die übrigen Vorschläge zum Gesellschaftsrecht behandeln. Nach der Sommerpause liegen dann die Ergebnisse der Bürokratiekosten- Messungen für die übrigen 12 Rechtsgebiete vor. Auf deren Grundlage wird die HLG die Vereinfachungsvorschläge des Konsortiums bewerten und weitergehende eigene Vorschläge einbringen. Um weitere Vorschläge zu bekommen, hat Roland Berger die Durchführung eines europaweiten Wettbewerbs vorgeschlagen. Diesen Vorschlag hat Vizepräsident Verheugen aufgegriffen. Der Wettbewerb richtet sich an Unternehmen, Bürger und öffentliche Verwaltungen. Vorschläge können bis Ende 2008 eingereicht werden. Die öffentliche Auszeichnung der Gewinner wird im Frühjahr 2009 erfolgen.

Ich bin der Überzeugung, dass Partnerschaften mit großen Zeitungen in den Mitgliedstaaten ausschlaggebend für den Erfolg des Wettbewerbs und den Bürokratieabbau insgesamt sein werden.

Denn für einen Erfolg beim Kampf gegen übermäßige Bürokratie ist die Öffentlichkeit der wichtigste Verbündete. Nur der öffentliche Druck kann bei den politischen Entscheidungsträgern ein Umdenken zu weniger Regelungen und „mehr Mut zur Lücke“ bewirken.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, mein Credo ist und bleibt: Europa muss bürgernäher und weniger bürokratisch werden. Vom Abbau der Bürokratie werden Bürger und Wirtschaft in ganz Europa echte Vorteile haben. Meine Überzeugung, dass Bürokratieabbau ein dringendes Gebot unserer Zeit ist, werde ich in dieser ehrenamtlichen Aufgabe sicher nicht an der europäischen Garderobe abgeben. Darum hat mich Kommissions-Präsident Barroso auch ausdrücklich gebeten.

Das negative Votum der Iren zum Reformvertrag hat noch einmal unmissverständlich deutlich gemacht:

Es kann kein „Weiter so“ geben, sondern die Sorgen und die Kritik der Bürgerinnen und Bürger müssen endlich ernst genommen werden. Vor allem auch ihr Wunsch nach mehr Transparenz und nach weniger Bürokratie.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit